- WELTBÜRGER-Stifter: weltweiser
- Programm: Freiwilligendienst
- Land: Chile
- Dauer: 1 Jahr
- Name: Mara
Zweiter Bericht
Hallo und Hola,
Januar und Februar sind in Chile eingenommen von den Sommerferien, in denen verreist, wer es sich leisten kann. Hier ist das Hauptverkehrsmittel der Bus, in denen auf Reisen durch das 4000 km lange Land viele Stunden verbracht und viele Kilometer hinter sich gebracht werden. Die Sitze lassen sich in bettähnliche Sessel konvertieren und durch einen Vorhang von den anderen abtrennen, sodass die Fahrten meist gemütlich und ruhig sind. Auch die Nahverkehrsbusse versprechen mit Auflademöglichkeiten und WLAN (das nie funktioniert) Komfort. Fakt ist, dass ich bei Fahrten in diesen Kleinbussen – Micros genannt – mehr Abenteuer erlebt habe als auf Reisen. Da ich mich in Santiago fast ausschließlich mit Micros fortbewege, würde ich sagen, dass ich Einiges von der Stadt gesehen und wiederum auch noch einmal viel über das Land gelernt habe.
So ist es für mich immer wieder erstaunlich, wie schnell und sichtbar sich die Wohngebiete der sozialen Schichten ablösen. Verallgemeinert gesagt werden sie durch den Hügel „San Cristóbal“ getrennt. Auf der einen Seite – wo ich wohne – verdienen die Menschen (wie ca. die Hälfte der Gesamtbevölkerung) unter 500 Euro monatlich. Innerhalb von 5 Minuten ist man mit dem Bus auf der anderen Seite des Hügels, fühlt sich zwischen den Hoch- und Apartmentbuildings aber wie in einer anderen Welt. Keine einzige streunende Katze auf den hohen Zäunen, kein Graffiti weit und breit und kein Papierchen in den sorgsam gepflegten Parks. Es wirkt in gewisser Weise zynisch, dass auf dem Hügel, der diese Lebensrealitäten, die unterschiedlicher nicht sein könnten, trennt, eine Maria-Statue steht, die schützend über die Stadt wachen und für Einheit stehen soll. Nach meiner Einschätzung haben die sozialen Klassen jedoch kaum Kontakt zueinander. Häufig ist es mir schon passiert, dass auf eine Person gezeigt wurde und diese abwertend als „cuico“ („Bonze“) oder „flaite“ („Assi“) kategorisiert wurden. Denn Chilen:innen können einen Menschen vom Aussehen, Akzent und Verhalten sofort einer Klasse zuordnen.
Um auf das Micro – Beispiel zurückzukommen: wohlhabendere Menschen bezahlen am Scanner im Bus immer die Fahrt mit der entsprechenden ÖPNV – Karte – auch, wenn es dort keine Schranke gibt. Ärmere Menschen springen auch einfach mal über die Barriere, jedoch nicht ohne sich durch ein gemurmeltes „permiso“ zu entschuldigen und dann beim Absteigen laut „gracias!“ zu rufen. Generell fällt beim Busfahren die Höflichkeit und Zuvorkommenheit der Chilen:innen auf. Der Bus hält auch schonmal außerhalb einer Haltestelle an, wenn die Hand ausgestreckt wird (die betont lässige Handbewegung ist auch bei den Haltestellen essentiell) und für alle älteren oder schwangeren Menschen wird sofort der Platz geräumt. Laute Musik aus Boxen, die in Deutschland als störend empfunden werden würde, wird hier jedoch genauso gern hingenommen wie Standupcomedians und meist erstaunlich talentierte Undergroundrapper:innen. Abends und nachts konkurrieren diese Töne dann mit der Musik der Busfahrer:innen, die ihre traditionelle, lateinamerikanische Musik auflegen. Einmal hat ein Busfahrer ein deutsches Lied gespielt: „Moskau“ von Dschinghis Khan- willkürlicher geht es glaube ich kaum. Nachts sind die Busse im Allgemeinen ein Microkosmos an sich. Komische Typen, die auch mal mit Steinen gegen die Scheiben werfen, stehen dann auf der Tages- bzw. Nachtordnung. Dennoch habe ich die Erfahrung gemacht, dass die restlichen Mitfahrenden zusammenhalten.
Beispielsweise wurde ich beim Warten an einer Bushaltestelle einmal von einem etwas komischen Typen angesprochen, der mich unweigerlich irgendwann fragte, woher ich komme. Nachdem ich ihm vage mit „aus Europa“ und auf seine Nachfrage mit „Deutschland“ geantwortet hatte, wusste er mir viel über mein Geburtsland zu erzählen, unter anderem zur Kolonialzeit und Hitlers angeblicher Flucht nach Chile. [Anmerkung: hier handelt es sich um den Erfahrungsbericht unserer Stipendiatin, die Stipendiatin und weltweiser distanzieren sich bewusst von solchen Aussagen.] Mit der Ankunft des Busses konnte ich ihn und seine viele Vorschläge, sich auf „einen cafecito“ zu treffen, endlich abwimmeln. Nicht ohne mulmiges Gefühl, weil alle Mitfahrenden (fünf männlich gelesene Personen) nun wussten, dass ich aus einem für sie unvorstellbaren reichen Land komme, stieg ich in den Bus ein. Wie befürchtet sprach mich auch einer der Männer an. Entgegen meiner Vorurteile fragte er mich jedoch, ob es mir gut ginge, weil ihm der Typ auch zu neugierig vorgekommen sei. Dieser Mann erzählte mir ein wenig von sich und seiner Familie, aber auf eine angenehme Art und Weise. Nach einiger Zeit mischte sich sein Sitznachbar ein – ein obdachloser Mexikaner – und erzählte von seinem Schicksal. Wie in einem Film kam ich mir vor, als er, der wohl als Straßenmusiker sein Geld verdient, dann anfing, in den schönsten Tönen mexikanische Mariachilieder zu singen. Nun konnten auch die anderen Männer sich nicht mehr zurückhalten. Ach, wie schön er denn singe und wo er das gelernt hätte und woher er komme, wollten sie wissen. Es stellte sich heraus, dass die anderen drei aus Peru, Ecuador und Venezuela kamen. Nach der halben Stunde Busfahrt, die ich so gefürchtet hatte, stieg ich gerührt im Angesicht dieser Fürsorge füreinander aus, nicht ohne dem Mexikaner den Tipp zu geben, bei den Einrichtungen für obdachlose Menschen meiner fundación um Hilfe zu bitten.
Weil viele Uberfahrer:innen aus Sicherheitsgründen nicht in unser Viertel fahren wollen, muss ich skurrilerweise häufiger zu später Stunde mit dem Bus, der unsicherer als ein Uber ist, nach Hause fahren. Auch wenn das manchmal nervt bin ich sehr dankbar für die Unabhängigkeit, die der ÖPNV mir ermöglicht. Ein Glück habe ich auch noch einige Monate Zeit, weitere Erfahrungen und Einsichten bei Busfahrten durch Stadt und Land zu machen.
Liebe Grüße nach Deutschland, wo hoffentlich gerade alle Verkehrsmittel zur Verfügung stehen,
Eure Mara
Erster Bericht
Hallo und Hola,
vor mehr als einem Jahr entschied ich mich dazu, nach meiner Schullaufbahn einen Freiwilligendienst in dem lateinamerikanischen Land Chile zu absolvieren. Dieser beinhaltet, dass ich für den Verein „Cristo Vive“ arbeite, der in Chile, Peru und Bolivien Krankenhäuser, Frauenhäuser, Kinderkrippen- und gärten, Betreuungseinrichtungen für Menschen mit Behinderung, Drogenproblemen und obdachlosen Personen aufgebaut hat und unterhält.
Zurzeit arbeite ich 43 Stunden in der Woche in einem der Kindergärten und werde nach den Sommerferien, die den ganzen Februar sind, darüber hinaus in einer Herberge für obdachlose Menschen zu auszuhelfen. Dort, wo sich diese Einrichtungen befinden – in einer sogenannten „población“ – wohne ich mit anderen Freiwilligen/ Praktikant:innen. Hier reihen sich viele kleine Häuser eng aneinander; es gibt wenig Privatsphäre, die Gemeinschaft ist super stark vernetzt. Alle 100 Meter gibt es eine Art Tante Emma Laden, der nach dem/ der Inhaber:in benannt ist, an jeder Ecke türmen sich dreimal die Woche die Müllberge, Flaggen des indigenen Mapuche-Volkes hängen über den Dächern, in den engen Straßen tummeln sich Straßenkatzen und -hunde und Kinder spielen mit einem platten Fußball, während die Eltern ihnen absichernd zuschauen.
Auch die die Kinder aus dem Kindergarten wohnen hier. Ein sehr großer Teil der Eltern kommt aus anderen lateinamerikanischen Ländern. Mir ist sofort positiv aufgefallen, dass es im Kindergarten Fotos, Buchcharaktere und Puppen gibt, diese Diversität repräsentieren. Dieses Inventar ist relativ neu, da der Kindergarten sich zurzeit in der Transition zu einer Einrichtung, die der Montessoripädagogik befolgt, befindet. Dennoch sind einige Erziehungsmethoden weiterhin streng und nicht sehr individuell gehalten. Es gibt einen Tagesplan, der wenig Spielraum – im wahrsten Sinne des Wortes, denn die begrenzten Räumlichkeiten bietet leider kaum Platz für Individualität – zulässt. Dieser Umstand und der für mich häufig zu strenge Umgang mit den Kindern beschäftigt mich immer wieder.
So habe ich das Gefühl, dass eine Diskrepanz zwischen den Erwartungen meiner Kolleginnen, die ich eigentlich auch erfüllen möchte, und meinen moralischen Werten entsteht. Wenn ich beispielsweise nicht an gesüßte Erdbeermilch als „Wundermittel für die Gesundheit“ glaube, möchte ich den Kindern nicht löffelweise das Getränk in den Mund schieben. Ein Gespräch mit meiner Freiwilligenbeauftragten ließ mich das Ganze dann aber noch einmal aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Weil weder gewährleistet ist, dass die Kinder zu Hause ausreichend zu Essen und Schlaf bekommen noch, dass sie Grenzen lernen, läuft es hier eventuell strenger als in vielen deutschen Kindergärten. Dennoch ist manches für mich immer noch unerklärlich und ich versuche jeden Tag aufs Neue, für mich Unerklärliches aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Denn ich denke, dass aus der Art und Weise, wie die Kindererziehung und Bildung funktioniert, sich viel auf die Gesellschaft eines Landes beziehen lässt.
Ich kann und möchte auch nach vier Monaten noch kein Urteil über Chile, die Kultur und die Menschen erlauben. Jedoch sind mir bereits viele Chilen:innen begegnet, die mit viel Geduld und Freude etwas über Land und Gesellschaft erzählt und erklärt haben. So unterschiedlich die Gesprächspartner:innen waren – von einem obdachlosen Sänger bis hin zum Bodyguard des chilenischen Präsidenten, der auf dessen Frau wartete, war alles dabei – so verschieden waren auch die Ansichten. Tatsächlich ist Chile eines der Länder mit der größten Schere zwischen Arm und Reich. Die Hälfte der Chilen:innen – zu denen auch meine Kolleginnen zählen – verdient weniger als 500 Euro im Monat. Die Lebensunterhaltungskosten sind dabei aber fast so hoch wie in Deutschland, da das Rentenversicherungssystem, die Strom- und Wasserversorgung, das Bildungswesen und das Gesundheitssystem seit der Militärdiktatur (1973 – 1990) privatisiert sind. Unter dem repressiven Regime von Augusto Pinochet wurde, angeregt von den USA, ein neoliberales Wirtschaftssystem eingerichtet, welches, wie mir viele Menschen berichteten, den sozialen Aufstieg behindert.
Vor drei Jahren gab es monatelange Proteste gegen diese soziale Ungerechtigkeit. Auslöser war die Erhöhung der Metroticketpreise um 30 Pesos – umgerechnet ungefähr drei Cent. Das Motto der Demonstrationen: „no son 30 pesos, son 30 años“ – „Es sind nicht 30 Pesos, es sind 30 Jahre“, das auf die wenigen gesellschaftlichen Veränderungen seit der Diktatur anspielt, inspirierte politisch aktive Menschen in anderen lateinamerikanischen Ländern, die ähnliche Schicksale erfahren haben. In Chile wurde schlussendlich beschlossen, dass eine neue Verfassung von einem paritätisch besetzten Gremium erarbeitet und plurinational, interkulturell, regional, ökologisch und feministisch ausgelegt werden sollte. Anfang September hat bei einem Plebiszit die Mehrheit der Chilen:innen diese Verfassung leider abgelehnt – die rechtradikale Propaganda hemmte wieder einmal die Zukunft des Landes. Und so kam eines zum anderen, dass am 18. September 2022 – zum dreijährigen Jubiläum – wieder große Proteste stattfanden. An diesem Tag war ganz Santiago in Aufruhe, denn niemand wusste, wie friedlich diese ablaufen würden. Ich habe gesehen, wie die Bevölkerung für eine bessere Zukunft gekämpft hat und war zutiefst beeindruckt von ihrer Determinität, die sich auch in der ganzen Stadt und bei fast jedem Gespräch spüren lässt. Und so verbringe ich viel Zeit damit, mir von aufgeschlossenen und herzlichen Chilen:innen ihre Lebensrealität zeigen zu lassen.
Ansonsten versuche ich in meiner Freizeit so oft es geht, das vielfältige und kostenlose Kursangebot eines naheliegenden Sportzentrums zu nutzen. Diese wundervolle Möglichkeit wird von den Menschen aus dem Kiez ausgiebig genutzt und ich freue mich, dadurch unsere Nachbarschaft näher kennenzulernen. Darüber hinaus besuche ich mehrmals die Woche einen Tanzkurs für Salsa und Bachata. Im Allgemeinen ist Santiago kulturell gesehen unschlagbar – es gibt zahlreiche interessante und kostenlose Festivals, Buchmessen, Theatersaufführungen und Museen. Dass ich dadurch kulturell und politisch Gleichgesinnte treffe, gibt mir ein sehr vertrautes Gefühl. Ich hätte nicht gedacht, dass diese Aspekte mir bei der Schließung neuer Freundschaften so wichtig sind wie ich in den letzten Monaten gemerkt habe. Wenn man wie ich in Deutschland seit Jahren eine feste Freund:innengruppe hat, hat man fast verlernt, wie es ist, eine Person komplett neu kennenzulernen und wird dabei in vielen Aspekten immer wieder (positiv oder negativ) überrascht.
Mit Sorge sehe ich die Zeit verrinnen und finde es unglaublich, wie viel ich bisher erleben und lernen durfte. Auf die nächsten Monate und kommende Erlebnisse, Erfahrungen und Erkenntnisse bin ich sehr gespannt!