- WELTBÜRGER-Stifter: weltweiser
- Programm: Schüleraustausch
- Land: Neuseeland
- Dauer: 10 Monate
- Name: Marike
Natürlich weiß ich, wo Neuseeland ist und wie es da so ungefähr aussieht, was man da so macht. Klar weiß ich ungefähr wie weit 20.000 km sind und wie lang es ist 26 Stunden im Flugzeug zu verbringen. Und ja, ich weiß auch wie schwer es sein kann, meine Freunde, meine Familie, naja, eben alles Bekannte hier zurückzulassen. Und doch habe ich es nie gewusst. Bis zu dem Tag, an dem ich den ersten Schritt aus der Haustür gemacht habe, in Richtung Ausland, in Richtung Neuland, Neuseeland eben.
Das erste halbe Jahr – wo fange ich an?
Meine ersten Monate hier in Neuseeland zusammenzufassen, das ist eine ganz schöne Aufgabe, weil ich obwohl ich ja alles direkt miterlebt habe kaum Worte dafür finden kann. Aber ich gebe mein bestes und fange Mal von vorne an:
Wie zu erwarten, war der Abschied von daheim nicht unbedingt leicht aber absolut machbar, und es hat ein Gefühl von plötzlich groß und erwachsen sein, wenn man so alleine in die Welt geht. Es ist vorerst ein komisches Gefühl einfach alleine in ein Flugzeug zu steigen und alles zurück zu lassen, was man bis jetzt so kannte und ins mehr oder weniger Unbekannte zu fliegen. Aber ich muss sagen, dass ich nach dem ich mich wirklich von allen verabschiedet hatte mit einer unglaublichen Ruhe, Zuversicht und Vorfreude ins Ausland gehen konnte, tatsächlich ohne Aufregung oder Angst. Und jetzt wo ich hier bin weiß ich, dass es auch gar keinen Grund gegeben hätte aufgeregt zu sein, weil selbst wenn am Anfang alles ganz neu und vielleicht unmöglich scheint, am Ende immer alles gut wird.
Nachdem ich in Christchurch angekommen bin, habe ich dann gleich am Flughafen meine Gastfamilie getroffen, und mir war irgendwie gleich klar: ich hätte nirgendwo anders hingewollt für mein Auslandsjahr! Zu der Zeit wohnten neben meinen Gasteltern und meinen beiden neuseeländischen Gastschwestern noch zwei weitere Gastschüler da: Kota aus Japan und Sophia aus Brasilien. Allein das war schon ein großes Abenteuer, weil man irgendwie die anderen Länder gleich ein bisschen mit kennenlernt.
Erster Schultag in Christchurch
Zwei Tage nach meiner Ankunft fing auch dann die Schule schon an. Da meine Schule sehr viele international students aufnimmt, gibt es ein extra international office mit Mitarbeitern, die uns in den ersten drei Tagen in die Schule eingeführt, die Gegend um Christchurch rum gezeigt und mit unserer Fächerwahl geholfen haben.
Am ersten richtigen Tag nach Stundenplan war meine Taktik in den Klassenraum zu kommen, intuitiv auf Leute zuzugehen und sie anzusprechen. Fühlte sich erstmal komisch an aber es hat wirklich gut funktioniert! Nachdem meine erste Schulwoche rum war konnte ich einfach gar nicht richtig fassen wie unfassbar viele tolle und offene Menschen es da draußen gibt und wie viel man verpassen würde, würde man sie nicht kennenlernen, und dieses Gefühl hat ehrlich gesagt bis jetzt kaum nachgelassen.
Und dann ging irgendwie alles ganz schnell: Plötzlich kommt man in die Schule und kennt trotz 2.500 Schülern Leute auf dem Pausenhof, man verabredet sich nachmittags mit neuen Freunden, findet seine Gruppe mit der man das Lunchtime verbringt und merkt garnichtmehr, dass man die ganze Zeit Englisch spricht.
Vorher wurde mir oft gesagt die ersten Wochen und Monate seien ermüdend und anstrengend und ich glaube genau so würde ich das nicht sagen. Ich habe mich in der ersten Zeit unzählbar oft verlaufen und mit dem Bus verfahren, aber so viele schöne Plätze hier würde ich nicht kennen, wäre das nicht passiert.
Meine Erfahrungen mit dem neuseeländischen Schulsystem
Natürlich muss man sich erstmal an die Art des Unterrichts gewöhnen, an die Sprache, an neue Menschen, an eine neue Lebensart, aber ich glaube, dass das alles sehr gut zu schaffen ist, wenn man nicht aufhört darüber lachen zu können Dinge falsch zu verstehen, Fehler zu machen, sich zu verirren.
Das Schulsystem in Neuseeland finde ich toll, man hat nur sechs Fächer insgesamt, diese darf man ab Year 12 frei wählen, und die Auswahl ist groß, um nicht zu sagen riesig. Mein Schulalltag momentan sieht so aus: Ich laufe morgens zur Schule, und was ich an meinem Schulweg ziemlich erwähnenswert finde ist, dass ich die Berge sehe und das Meer rieche (merkt man, dass ich Neuseeland sehr mag?).
Die Schule fängt bei mir je nach Tag um 8:10 Uhr oder um 9:15 Uhr an, und weil ich Mal aus dem normalen Lehrplan in Deutschland rauskommen wollte verbringe ich meinen Morgen mit Fächern wie Fotografie, Outdoor Pursuits, Painting oder Drama, also so ziemlich das Gegenteil von meinem deutschen Schulalltag, aber genau das wollte ich ja: Mal was anderes.
Auch die Art des Unterrichts unterscheidet sich stark von Deutschland: Im letzten Halbjahr hier habe ich nicht ein Heft und ungefähr 10 Blockblätter benutzt. Wir arbeiten sehr viel an Laptops, jeder Schüler besitzt einen oder leiht ihn bei der Schule. Für (eher selten vorkommende) Hausaufgaben gibt es eine extra Plattform in die man sich einloggt um die Aufgabe meist direkt dort zu bearbeiten und wieder einzureichen.
Sowas wie unangekündigte Tests gibt es eigentlich nicht, hier ist es eher so, dass man für eine größere Arbeit einen bestimmten Zeitraum hat in dem diese zu bearbeiten ist. Das kann dann im Unterricht oder Zuhause gemacht werden und muss eben nur am Abgabedatum fertig sein. Es geht vielmehr um selbstständiges und selbstbestimmtes Arbeiten, darum Entscheidungen zu treffen und für sich selbst verantwortlich zu sein.
Fernweh? JuBi!
Bis ich das verstanden habe kamen mir die Aufgabenstellungen immer viel zu offen vor, aber da wird einfach immer ein bisschen Raum für Kreativität und Entscheidungen gelassen, man versteht plötzlich viel mehr von dem was man lernt, weil nicht direkt vorgegeben ist was man exakt machen muss, sondern man sich eben ein bisschen damit befassen muss, das gefällt mir unglaublich gut.
Die berühmte neuseeländische Herzlichkeit
An das Leben in meiner Gastfamilie habe ich mich schnell gewöhnen können, es ist immer viel los bei uns, was mir persönlich wirklich gut gefällt. Nach kurzer Zeit war meine Gastschwester Sophia für mich schon mehr eine richtige Schwester, wir haben alles zusammen gemacht und waren mehr oder weniger unzertrennlich und seit sie seit November wieder in Brasilien ist, zählen wir nur noch die Tage, bis wir uns wiedersehen.
Zu den Neuseeländern an sich kann ich nur nochmal sagen, was wahrscheinlich alle sagen: Sie sind so unglaublich herzlich. Man fühlt sich überall Willkommen, man muss nur annähernd fragen und es wird alles möglich gemacht, und nicht nur einfach so, sondern mit einer Freude die einfach unverwechselbar ist. Was ich definitiv von der Lebensart hier mitnehme ist das Entspannte.
Ich habe das Gefühl alles hier geht ein bisschen langsamer, ganz ohne Stress und Hektik, ohne Grund zur Sorge, und auch wenn man es am Anfang nicht denkt funktioniert alles, ich würde sagen sogar mehr als bei uns, aber eben ohne, dass irgendjemand im Stress war. Es ist immer Zeit nochmal was Nettes zu sagen, jemanden anzulachen oder anderen zu helfen.
Abtenteuer am anderen Ende der Welt
Ich könnte so unfassbar viele Erlebnisse aufzählen, von endlosen Tagen am Meer, von all den schönen und lustigen Situationen mit meiner Gastfamilie und von unseren Unternehmungen, von allem was ich aus dieser Zeit an Erfahrung mitnehme. Ich komme jeden Tag aus der Schule und bin zu begeistert über alles, was ich gelernt hab, um es in Worte zu fassen.
Ich bin viel in Neuseeland gereist, bin bei strömendem Regen und Sturm durch den Milford Sound gepaddelt, war bei 9°C Außentemperatur Surfen, hab mitten in den Alpen gehört, dass man NICHTS hören kann, wenn man selbst ruhig ist und bin im strahlenden Sonnenschein ewig lang im klaren Abel Tasman Nationalpark Wasser geschwommen und gekayakt.
Ich habe klatschspiele auf Japanisch und Lieder auf Brasilianisch und zählen auf Italienisch gelernt, und, eine weitere wichtige Lektion: in Neuseeland trägt man immer Shorts und Flip-Flops, komplett egal wie kalt es ist.
Meine neue Heimat in a nutshell
Müsste ich die Zeit in Neuseeland mit einem Wort beschreiben, es wäre Licht. Wenn ich an die vergangenen Monate denke fühlt es sich tatsächlich so an, als hätte jemand Licht in meinem Kopf angemacht. Ein Licht das mir ermöglicht einen ganzanderen Blick auf Situationen, auf Meschen, auf die Welt zu haben und das mir nicht nur so viel über alles um mich herum, sondern noch viel mehr über mich selbst beigebracht hat.
Heimweh hatte ich noch gar nicht, es gibt Situationen in denen man denkt Daheim wäre es jetzt leichter oder in denen alles auseinanderzufallen scheint, aber was mir diese Situation immer und immer wieder zeigen und weswegen ich sie schon fast mag ist, dass auch wenn man denkt man ist alleine, ist man es nie. Es kommt eigentlich immer genau im richtigen Moment jemand daher, der einen genauso versteht, wie man es braucht, der einen in den Arm nimmt bis alles gut ist.
Natürlich hatte ich unglaubliches Glück mit allem, was ich hier machen kann, mit den Menschen die ich kennengelernt habe und all den Orten an denen ich war, und ich weiß, dass das nicht selbstverständlich ist, aber was ich auch weiß ist, dass es alles auf diesen einen kleinen Schritt aus meiner Haustür raus zurückzuführen ist.
Weg von allem was sicher scheint und da hin, wo man sich eben nicht auskennt. Die Chance so viele Dinge zu erleben und all diese Erfahrungen zu machen ist riesig, wenn man einmal loslässt und weggeht.
Und, naja, ich glaube jetzt kann ich schon ein bisschen mehr sagen wo Neuseeland ist und wie es da so ungefähr aussieht, was man da so macht. Aber ich hätte noch so viel mehr zu sagen. Dass es es da draußen so viele unfassbar herzliche, hilfsbereite und schöne Menschen gibt, von überall her auf der Welt, dass es so viele Dinge gibt, die man noch nie gemacht hat, weil man sich nie getraut hat, dass es da noch so viel zu lernen gibt, nicht aus Büchern, sondern aus Menschen, aus Abenteuern, Herausforderungen.
Dass es in der Welt so viele Landschaften gibt, die es wert sind nicht nur auf Karten und Fotos geglaubt zu werden, weil man sie selbst sehen muss, um es tatsächlich begreifen zu können. Und vor allem gibt es auf dem Weg in die Welt eine Erkenntnis, und zwar die, wer man selbst ist, was man braucht, und was einem selbst wirklich wichtig ist. Und die Welt da draußen…. sie ist weit und bunt und wunderbar und sie steht uns offen. Und diesen einen Schritt aus der Tür?! Ich würde ihn immer wieder tun.
Die Rückkehr in Zeiten von Corona
Der Frankfurter Flughafen ist komplett leer, die Ankunftshalle scheint wie eine Oase, denn vereinzelt und mit Abstand stehen hier die Leute. Fast alle haben den gleichen Luftballon: “welcome home” ist darauf geschrieben. Er ist aus dem einzigen Laden, der offen ist, die Luftballons sind dort jetzt alle weg. Bevor wir ins Parkhaus gehen will ich noch einmal zu dem Ort, an dem ich mich letztes Jahr verabschiedet habe, bevor ich gegangen bin. Ich kann mich fast noch da stehen sehen, aber als eine Andere eben. Als die Marike vor Neuseeland, vor der größten Reise meines Lebens. Normalerweise wäre ich erst im Juli wieder hier gestanden. Aber da zur Zeit nichts wie “normalerweise” ist, kam es eben so. Aber jetzt Mal von Anfang an.
Ich kann mich noch gut daran erinnern als mein Gastvater mir im Januar erzählt hat, dass in China eine ganze Stadt wegen einem neuartigen Coronavirus in Quarantäne sei. Ich konnte mir das überhaupt nicht vorstellen. Der Gedanke, das öffentliche Leben stoppt, eine ganze Stadt riegelt sich ab und alle bleiben Zuhause, war mir absolut fremd und nur daran zu denken machte mir Angst. In den folgenden Wochen kam Corona immer mehr ins Gespräch, immer öfter drang in Nachrichten von Freunden und Familie von Zuhause durch, sie hätten Angst. Es war nicht, dass ich keine Angst hatte, nur ging das Leben in Neuseeland erstmal relativ unverändert weiter, die Fallzahlen waren tief. Irgendwann wurde die Einreise beschränkt, meine neue Gastschwester aus China kam einen Monat später, in der Schule wurde erklärt wie man sich die Hände wäscht, dass man vorsichtig sein soll und daheim bleiben muss, wenn man sich nicht gut fühlt, auch die Supermärkte wurden nach und nach leerer, trotz einer Fallzahl, die die 20 noch nicht überschritten hatte. Dann wurde die Einreise komplett verboten, Flüge blieben fast komplett aus. Oft hörte man den Satz mehr Maßnahmen seien ja noch nicht nötig, aber man müsse ja vorbereitet sein. Manchmal kam es mir so vor, als hätte Corona uns vergessen auf der Insel am anderen Ende der Welt, während wir alle warteten, dass die Welle auch uns erwischt und der Welt dabei zuschauten, wie es schlimmer und schlimmer wurde.
Dann stiegen die Zahlen über die hundert und es kam der Tag, an den ich mich seitdem so sehnlich zurückwünsche: der letzte Schultag. In den Tagen davor hatten Lehrer angefangen Umfragen zu machen, wer noch Laptops braucht, uns zu zeigen, wie wir online lernen und in der folgenden Woche war für jeden Jahrgang ein Tag frei geplant um das Homeschooling auszuprobieren. Es war die letzte Stunde an dem Tag, Design and visual Communication. Plötzlich kommt eine Durchsage, dass Neuseeland in 48 Stunden in Alert Level 4 gehen wird, was eine komplette Kontaktsperre bedeutet, draußen sein darf man nur zum Einkaufen, Arztbesuch oder Training im Park. Die Schüler sollen jetzt bitte nach Hause gehen, die Schule sei bis auf weiteres geschlossen. Die Klasse freut sich, viele sind super happy, dass jetzt erstmal keine Schule ist.
Ich sitze nur da und bin wie in einer Schockstarre, die Schule war einer meiner Lieblingsplätze in Neuseeland, in allen Fächern hier bin ich so aufgegangen, dass ich weder Ferien noch ein Wochenende gewollt hätte, und jetzt war es vorbei, keiner weiß, bis wann. Ich packe meine Sachen und laufe auf den Schulhof, ich begegne zwei meiner besten Freundinnen, die auch Austauschschüler sind, wir wissen nicht, für wie lange das der letzte Tag ist, also beschließen wir zu tun, was wir können. Wir laufen mit Tränen in den Augen zum nächsten Café, kaufen viel Kuchen und Muffins neben Leuten, die hoffen hier noch Milch oder Kaffeebohnen mitkaufen zu können, dann setzen wir uns in den Park und essen erstmal. Die Schlangen vor den Supermärkten sind ewig lang, “alle machen Panikshoppen, wir machen Panikessen” ist unser Motto. In der Herbstsonne springen wir durch Blätterhaufen im Park, schaukeln und schauen uns immer wieder lange an, so, als wollten wir uns gegenseitig in uns festhalten für die nächsten Wochen alleine.
Und dann kamen diese Wochen, und ich bin relativ sicher, wenn ich sage, dass es die anstrengendsten Wochen meines Lebens waren. Die Schule wird Online stattfinden, die Osterferien werden allerdings in die ersten beiden Quarantänewochen verschoben, sodass es quasi erstmal zwei Wochen “Urlaub” sind. Dann steht Neuseeland auf der Liste für Länder mit Rückholaktion, und aus den Mails meiner Organisation wurde klar, dass wir nicht heim müssen, dass wir aber sollten, da eine pünktliche Heimreise sonst nicht garantiert werden könne. Gleichzeitig empfiehlt das international office uns immer wieder heimzufliegen, da Neuseeland über eine Grenzschließung für einige Monate bis zu einem Jahr nachdenkt. Ich entscheide mich trotzdem zu bleiben und bin sehr entschlossen, die Konsequenzen dafür zu ertragen, Hauptsache ich könnte in Neuseeland bleiben, wo ich es so sehr liebe. Neuseeland jetzt zu verlassen würde mich komplett fertig machen. In der Nacht danach schlafe ich nicht, die Entscheidung wühlt mich komplett auf, und nach vielen langen Gesprächen mit meinen Eltern, meiner Gastfamilie, meinen Freunden und meiner Organisation komme ich zu dem Schluss, heimzureisen.
Es war damals also tatsächlich der letzte Tag, der letzte richtige zumindest, und all meine Freunde habe ich an diesem Tag das letzte Mal gesehen ohne es überhaupt zu wissen. Ich fange also an zu packen, dabei breche ich immer wieder in Tränen aus, mir scheint, als würde alles, was im letzten Jahr meine ganze Welt, mein ganzes Leben ausgemacht hatte zu bröckeln beginnen. Alles, was mich festgehalten hatte, alles, an dem ich mich festgehalten hatte, wird nur noch auf unbestimmte,aber gezählte Zeit so sein. Wann ich fliegen werde ist unklar. Da ich in Flughafennähe wohne kann es sein, dass ich angerufen werde, falls es unerwartet freie Plätze im Flugzeug gibt, dann muss ich in 30 Minute da sein, andererseits könnte es sein, dass ich noch drei Wochen auf einen Flug warten muss.
Dann verbietet die Regierung plötzlich die Ausreise aus Neuseeland. In diesen Tagen kann ich nicht viel machen außer stundenlang spazieren, zu allen Plätzen, die mir was bedeuten und sie mit einem Lied zu verabschieden, das ich mit Neuseeland verbinde. Ich schreibe meine Freunde an, dass ich heimfliegen werde, und Sprachnachrichten in denen wir weinen ist unser Abschied. Als die Ausreisesperre aufgehoben wird packe ich meine Taschen auf ein Neues.
Es ist Dienstagmorgen, ich habe mir gerade Porridge gemacht und laufe damit in mein Zimmer, durch Zufall schaue ich auf mein Handy und sehe, dass ich einen verpassten Anruf habe. Als ich zurückrufe und die Antwort höre, falle ich rückwärts auf meinen Stuhl: Wenn ich in einer halben Stunde am Flughafen sein könne, dürfe ich heute fliegen. Tausend Gedanken rasen in meinem Kopf. Wen frage ich? Wer gibt mir Rat? Was soll ich tun? Ich laufe in die Küche, ins Bad, in den Flur, in mein Zimmer, ohne Ziel. Dann fällt mir etwas auf: Eine der größten Lektionen dieses Jahres war, wie sehr ich mich auf mich selbst verlassen kann, wie gut ich auf mich hören kann, wenn es um große Entscheidungen geht.
Also beruhige ich mich kurz und dann fange ich wie von selbst an zu packen. Der Abschied von meiner Gastfamilie ist sehr schwer. “You’re gonna come back, right?!” sagen sie. “I’m gonna come back.” sage ich. Und ich war mir selten über etwas so sicher. Letzte Blicke mit weinenden Augen fallen. “Thanks for being my family.” verabschiede ich mich. “Thanks for being our family.” erwidern sie, mit diesen Worten fällt die Tür ins Schloss. Am Flughafen geht alles ganz schnell, in der Abflughalle erfahre ich von jemandem, dass wir über Vancouver fliegen. Heute noch nach Kanada zu kommen hätte ich auch nicht gedacht, aber ich bin ja offen für Abenteuer, also los. 26 Stunden im Flugzeug, kein Aufstehen, auch nicht beim Zwischenstopp. Ich bin komplett fertig, als ich ankomme und gleichzeitig auf eine komische Art aufgeregt, weswegen ich auch keine Minute des Fluges geschlafen habe sondern hauptsächlich nachgedacht, resümiert, geschrieben, auf ein Leben zurückgeblickt, das so nicht wieder sein wird. Heute habe ich noch immer guten Kontakt zu meiner Gastfamilie und vor allem zu meinen Freunden. Da die Quarantäne in Deutschland lockerer ist als in Neuseeland, habe ich eher Freiheit dazugewonnen, allerdings sehne ich mich schon danach meine Freunde einfach wieder umarmen zu dürfen, jetzt wo ich schon so nah bin.
Das also ist die Geschichte die mich zu diesem Zeitpunkt hierher gebracht hat, an einen leeren Flughafen, und Mal wieder steht über allem die Überschrift Corona. Deshalb würde ich gerne noch kurz sagen, was mir dieses abrupte Ende gezeigt hat, auch, wenn ich es anders gewollt hätte.
Im Dezember habe ich aus irgendeinem Grund angefangen mich jeden Tag zu fragen was wäre, wenn ich morgen früh in einen Flieger steigen und losfliegen müsste. “Was würdest du tun, wenn du morgen sterben würdest?” fand ich immer zu unrealistisch, aber das mit dem heimfliegen irgendwie nicht, das spiegelte meine absolut größte, aber gleichzeitig eine realistische Angst wieder. Also habe ich mir jeden Morgen gepackte Koffer vorgestellt und den Tag gelebt, als stünden sie wirklich da. Und ich hatte selten einen solchen Tatendrang und diese Fähigkeit alles voll zu genießen. Ich war an so vielen Orten, hab so viele Menschen angesprochen, so viel gesehen und gelernt, gehört und gemacht, so viele Fragen gefragt und Antworten gehört, dass sich meine Definition für das Wort Leben nochmal komplett verändert hat.“Bis Juli hab ich doch eh noch Zeit”, den Gedanken habe ich so gut es ging verdrängt, auch wenn ich hätte behaupten können das Ende zu kennen, wollte ich es nie behaupten, denn was weiß ich schon?!
Die Zeit in Neuseeland war ein Leben, sie war ein Teil meines Lebens, wenn nicht sogar ein eigenes. Die Geburt war der Schritt aus der Haustür im Juli 2019, der “Tod” das einsteigen ins Flugzeug im April statt im Juli 2020. Das klingt erstmal negativ, aber ich konnte gehen ohne auch nur eine Sache zu haben, die ich bereue, da ist nichts, was mir fehlt. Ich habe für den einen Tag gelebt, von dem ich wusste, dass es ihn gibt, nämlich den, der gerade ist. Auf ein ganzes Leben übertragen kann ich mitnehmen, dass die Angst dass es jeden Moment vorbei oder eben komplett anders sein könnte, real ist. Ich meine wie gesagt, beim Frühstück angerufen werden und gesagt bekommen, dass das Auslandsjahr jetzt vorbei ist, wenn man in 30 min am Flughafen ist, beendet das alles schon sehr plötzlich. Aber die Angst sollte nicht einen bedrücken, sondern beleben. Denn je mehr man Tag für Tag die Dinge tut die man sich wünscht, die einen absolut sprachlos und dann komplett begeistert zurücklassen, ob das Menschen, Gespräche, Aktivitäten, ein toller Platz oder einfach nur ein Sonnenaufgang sind, desto kleiner ist die Angst vor dem Ende und dem Abschied.
Als ich dann in Frankfurt gelandet bin fiel mir auf, dass ich jetzt einmal die Welt umrundet hatte: von Frankfurt über Sydney nach Neuseeland, und über Kanada zurück nach Frankfurt. Auch eins der Dinge, die ich schon immer Mal machen wollte, ein Abenteuer, dass das Leben ein bisschen lebenswerter macht und diese Reise wie ein Kreis schließt, wenn auch zu früh, ich werde immer wieder losgehen, immer neue Kreise beginnen.