- WELTBÜRGER-Stifter: Ayusa-Intrax
- Programm: Schüleraustausch
- Land: Norwegen
- Dauer: 10 Monate
- Name: Nicolas
Am 18. 12. setzte ich nach langer Zeit zum ersten Mal wieder den Fuß auf deutschen Boden. Warum? Der Grund ist, dass ich Teil eines Schüleraustauschprogrammes war und dafür von August bis Dezember 2015 in Norwegen gelebt habe. Ich bin mit der Organisation Ayusa-Intrax verreist, habe dort bei einer Gastfamilie gelebt und eine normale Schule besucht.
Angefangen hat aber alles am 12. August 2015 erst einmal mit einem sogenannten „Soft Landing“ – Camp in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen, zusammen mit Dutzenden von anderen Austauschschülern aus aller Welt. So wurde ich am Flughafen in Dänemark direkt von Betreuern einer Partnerorganisation von Ayusa und zwei anderen Austauschschülerinnen (eine aus Taiwan, die andere aus Deutschland) empfangen. Mit unserem Gepäck im Schlepptau wurden wir in das Generator Hostel im Zentrum der Stadt gebracht – da wir einen relativ frühen Flug hatten, gehörten wir zu den ersten Teilnehmern im Hostel, während andere Teilnehmer im Laufe des Tages eintrudelten. Trotzdem wurde es an diesem Tag allerdings für mich nicht langweilig, weil ich viele neue Menschen aus verschiedenen Ländern kennenlernte – wann sonst lernt man Jugendliche aus Taiwan, Japan, Thailand, Italien, und Australien an einem einzigen Tag kennen? In den darauffolgenden Tagen bekamen wir vieles von Kopenhagen gezeigt: Die kleine Meerjungfrau, den Königspalast, die neue Königliche Bibliothek (auch „Schwarzer Diamant“ genannt) und die Oper. Unter anderem machten wir eine Hafenrundfahrt und einen Ausflug in das beeindruckende, topmoderne nationale Aquarium.
Neben dem Sightseeing blieb aber auch noch Zeit für Workshops, in denen es um mögliche Schwierigkeiten und Probleme während des anstehenden Auslandsaufenthaltes ging. Rückblickend finde ich dieses Camp sehr lohnenswert, weil es mir nicht nur Einblicke in eine interessante Weltstadt gegeben, sondern auch viele neue Kontakte beschert hat. Ganz nebenbei habe ich in dieser Zeit mehr und mehr die Hemmungen verloren, Englisch im Gespräch und Alltagsleben zu gebrauchen – die wenigsten der Campteilnehmer haben perfektes Englisch gesprochen, aber trotzdem war es eine Sprache, die eigentlich alle verstanden. Für mich war dies vielleicht der erste Moment meines Lebens, in dem die Sprache Englisch wirklich aus dem schulischen Zusammenhang befreit wurde und nicht mehr nur eine Sprache des Klassenraums und der Lehrbücher war: Hin zu jener Weltsprache, in der es beispielsweise auch gar nicht schlimm ist, wenn man mal eine Vokabel nicht weiß, solange man sie irgendwie durch andere Begriffe ersetzen kann. Ebenso wurde mir bei diesem Camp klar, wie viel junge Menschen aus aller Welt miteinander verbindet – wir nutzen schließlich die gleichen sozialen Netzwerke, kennen die gleiche Musik und sprechen eine gemeinsame Sprache.
Nach den Tagen im Vorbereitungscamp wurden am 15. August alle Austauschschüler auf Flüge in ihre jeweiligen Gastländer verteilt: Dänemark, Schweden, Finnland – und Norwegen. Nachdem ich mich gerade in Kopenhagen etwas eingelebt und an all die neuen Menschen gewöhnt hatte, hieß es nun also, sich erneut ins Unbekannte zu stürzen. Zunächst hatte ich noch denselben Flug wie einige der anderen Campteilnehmer und war deshalb nicht ganz alleine – doch am Flughafen Gardermoen nahe der norwegischen Hauptstadt Oslo angekommen, trennten sich alle unsere Wege, denn wir wurden von unseren jeweiligen Gastfamilien erwartet. Also: Koffer am Band abholen, durch einen langen, verglasten Korridor zum Ausgang gehen und dann hinaus: Exit.
Doch ein bisschen wusste ich ja zugegebenermaßen vorher schon, nicht alles war mir in diesem Moment unbekannt. So war es der 5. August, also genau eine Woche vor meinem Aufbruch – der zufälligerweise auch noch der Tag war, an dem ich zusammen mit einem Freund eine große Abschiedsfeier organisiert hatte – an dem nach langem Warten die ersten Informationen über meine neue Heimat ankamen: Nicht am Polarkreis würde ich also leben, nicht in Svalbard oder Tromsö (wäre theoretisch alles möglich gewesen) – sondern in Oslo, der Hauptstadt Norwegens am Oslofjord im Süden des Landes. Ich würde mit einem 19-jährigen Gastbruder das Zuhause teilen und einen Gastvater, der in der norwegischen Gewerkschaftsunion arbeitet sowie eine Gastmutter, die Managerin eines IT-Unternehmens ist, haben. Das war für mich alles schon einmal relativ beruhigend, außerdem hatte ich mit meiner Gastfamilie am Tag vor meiner Abreise bereits geskyped. Trotzdem – irgendwie war es schon ein Aufbruch in ein unbekanntes neues Leben.
Doch das Wetter in Norwegen scheint mir gewogen gewesen zu sein, die Sonne verwandelte den Tag in einen der wärmsten des (wohlgemerkt kurzen) norwegischen Sommers – und irgendwie fanden meine Familie und ich uns in dem Empfangsbereich, obwohl wir uns vorher nur von einzelnen Fotos und dem Skypen kannten. Die Begrüßung und das erste Kennenlernen klappte wunderbar und während der etwa 1-stündigen Autofahrt nach Oslo machten wir uns bereits näher miteinander vertraut – auf Englisch, welches bei den meisten Norwegern (wie ich im Laufe der Zeit merken würde) hervorragend ist. Als wir dann in meinem neuen Zuhause auf Zeit in einem Außenbezirk von Oslo angekommen waren und ich meinen eigenen Raum betreten hatte, war ich aber auch verdammt müde. Abends kam dann noch eine andere Austauschschülerin aus Deutschland – und lebte etwas mehr als eine Woche bei uns, weil es logistische Schwierigkeiten mit ihrer eigenen Gastfamilie gab.
Fernweh? JuBi!
Das erste Wochenende lernte ich dann sehr viel von Oslo kennen – der mit 500.000 Einwohnern kleinsten skandinavischen Hauptstadt (bevölkerungsmäßig also ungefähr mit Düsseldorf zu vergleichen). Ich merkte schnell, dass Oslo eine Stadt im Wandel, im Bau ist – auch buchstäblich, denn Baustellen und neue Gebäude findet man in der Stadt an jeder Ecke. Gerade werden gleichzeitig ein neues Nationalmuseum, eine neue Nationalbibliothek und ein neues, hochmodernes Museum für Norwegens „Nationalhelden“ Edvard Munch gebaut, außerdem wird das Stadtbild bereits von architektonisch aufregenden Gebäuden wie der Staatsoper und dem Astrup Fearnley–Museum beherrscht. Dazu muss man anmerken, dass die Stadt noch nicht allzu lange touristisch ausgebaut ist – der Ölboom der vergangenen Jahrzente hat zu Oslos Modernisierung merklich beigetragen. Es geht der norwegischen Kultur im Moment finanziell gesehen nämlich ziemlich gut und wenn Oslo geschichtlich schon nicht so bedeutsam ist wie beispielsweise Kopenhagen, Stockholm oder Trondheim, werden künftig wohl viele neue Anreize aus dieser Stadt kommen. Übrigens ist Oslo auch auf dem Weg, ein multikultureller Schmelztiegel zu werden und zählt schon jetzt zu den am schnellsten wachsenden europäischen Großstädten.
Nach diesem kleinen Exkurs komme ich aber jetzt zu meiner norwegischen Schule und dem Schuljahr, welches am Montag nach meiner Ankunft anfing. Ich sollte die Persbraten videregaende skole besuchen – dazu sollte man kurz erklären: Das norwegische Schulsystem ist anders als das deutsche – so bekommen alle Schüler bis zum 10. Schuljahr die gleiche Schulbildung und entscheiden erst danach, ob sie eine dreijährige weiterführende Schule besuchen möchten. Diese ähnelt in ihren Anforderungen ein wenig der amerikanischen High School und ist generell etwas einfacher als deutsche Gymnasien.
An meinem ersten Schultag wurde mir erst einmal das Gelände gezeigt und ich bekam die Gelegenheit, einige Lehrer kennenzulernen, die für mich als „Neuling“ verantwortlich waren. Ich behalte bis heute die Freundlichkeit und Warmherzigkeit in Erinnerung, mit der mir bereits am ersten Tag alle in der Schule, vom Mitschüler bis zur Rektorin, begegnet sind – dazu hat die Angewohnheit, in Norwegen „Du“ zueinander zu sagen (selbst der König wird von seinen Bürgern geduzt) sicherlich ihr Übriges getan und mögliche Hierarchien abgebaut.
Nichtsdestotrotz sollte ich in meinen ersten Tagen erleben, dass die Norweger (so wie man es in Deutschland auch vermutet) sehr zurückhaltende Menschen sind. Das hieß für mich, dass es gerade am Anfang sehr schwer war, enge Freundschaften mit meinen Mitschülern aufzubauen. Eine große Barriere diesbezüglich war natürlich die Sprache: In Deutschland hatte ich einen Volkshochschulkurs in norwegisch belegt und verfügte somit über einige Grundkenntnisse in der Sprache und ihrer Grammatik – trotzdem merkte ich schnell, dass ich mit einem Problem der norwegischen Sprache fertig werden muss: Den Dialekten.
Während wir in Deutschland ja das sogenannte „Hochdeutsch“ haben, gibt es so etwas in Norwegen nicht. In meinem Kurs in Deutschland hatte ich passenderweise den Dialekt gelernt, der in Oslo und seiner Umgebung gesprochen wird – allerdings lernte ich im Laufe der Zeit viele Menschen in Oslo kennen, die aus anderen Teilen des Landes kamen – und ihren eigenen Dialekt sprachen. Für Norweger ist es wohl kein Problem, die anderen Dialekte zu verstehen, für Ausländer wie mich war das Fehlen einer Einheitssprache allerdings ziemlich verwirrend. Deshalb musste ich mich in Gesprächen mit meinen Mitmenschen lange Zeit auch auf Konversationen in Englisch beschränken – für Norweger eigentlich kein großes Problem. Hier ist Englisch nämlich noch viel präsenter als in Deutschland, da das Fernsehen beispielsweise keine englischsprachigen Spielfilme synchronisiert, sondern nur durch Untertitel ergänzt. Auch ist der Englischunterricht in Norwegen meiner Meinung nach sehr viel anspruchsvoller als in Deutschland und es ist nahezu unmöglich, im Alltag ohne Englischkenntnisse auszukommen. Dazu eine kleine Geschichte: Als ich an meinem 18. Geburtstag mit meiner Gastfamilie in einem Restaurant im Zentrum der Stadt war, nahm der Kellner unsere Bestellung auf Englisch auf. Ich fragte danach verwundert, warum der Kellner denn nicht norwegisch mit uns spräche – als Antwort folgte: Er kommt aus dem Ausland und kann deshalb kein norwegisch. Unvorstellbar ist es für mich nach wie vor, dass ein Kellner in einem deutschen Restaurant kein Deutsch kann, ich vermute sogar, dass gute Deutschkenntnisse eine Grundvoraussetzung für Anstellungen bei den meisten Restaurants hierzulande sind. Meine Gastfamilie schien aber nicht besonders verwundert darüber zu sein, was mir nur einmal wieder gezeigt hat, wie vertraut man dort mit Englisch als ganz normaler Alltagssprache ist.
Im Unterricht meiner Schule hingegen spielte norwegisch eine deutlich größere Rolle und der Unterricht war (außer dem Englischunterricht) ausschließlich in der Landessprache. Auch die Gespräche meiner Mitschüler waren natürlich in ihrer Muttersprache und so gab es für mich nur eine Möglichkeit: Ich war es, der sich an die Norweger anpassen musste. Nicht andersrum.
Was zunächst ein aussichtsloses Unterfangen zu sein schien (Beispiele: die Dialekte; der große Unterschied zwischen geschriebener Sprache und wie es ausgesprochen wird, etc…), wurde dann langsam besser: Ich sah jeden Tag Nachrichten im Fernsehen, las die Tageszeitung und stürzte mich auch sonst auf alle norwegischen Texte: Werbekataloge, Schulbücher, Zeitschriften – Hauptsache, ich verstand irgendetwas. Gerade die Tageszeitung wurde für mich im Laufe der Zeit eine wichtige Hilfe – auch wenn man es sich vielleicht sehr schwierig vorstellt, ist eigentlich genau das Gegenteil der Fall: In der Osloer Zeitung „Aftenposten“ wird nämlich ein sehr unkompliziertes und einfaches norwegisch geschrieben, außerdem versteht man schnell den Inhalt eines Artikels, weil man viele Personen- und Ländernamen aus der deutschen oder englischen Sprache wiedererkennt.
Der große Durchbruch kam dann wohl im Oktober, als meine Gastfamilie und ich beschlossen, ab jetzt nur noch norwegisch miteinander zu sprechen. Bis dahin hatte ich schon einiges an Wörtern gelernt und konnte auch schon Texte in der Sprache schreiben – an das Sprechen hatte ich mich allerdings noch nicht wirklich herangetraut. Dies sollte sich nun ändern – ab diesem Zeitpunkt legte ich mein Englisch mehr und mehr ab, um es durch norwegisch zu ersetzen. Ich schrieb erste Prüfungen in der Landessprache und lernte durch die neuen Sprachkenntnisse vor allem meine Mitschüler besser kennen.
Als ich dann 18 Jahre alt wurde, lud ich erstmals 5 meiner Klassenkameraden zu mir nach Hause ein und genoss einen schönen Abend mit ihnen. Das Beste: Am Ende des Abends hatten wir kein einziges Wort auf Englisch miteinander gesprochen!
Eine weitere Bereicherung meines Alltags erfuhr ich durch meine Arbeit in der norwegischen Schülervertretung „elevrad“ – in diese war ich am Anfang des Schuljahres völlig überraschend als „tillitselev“ (also Vertrauensschüler/Klassensprecher) gewählt worden! Im „elevrad“ wurde ich dann auch in die „elevradsstyre“, ein 6-köpfiges Leitungsgremium, gewählt. Dort lernte ich viele weitere interessante Menschen meiner Schule kennen und bekam einen umfassenden Einblick in das norwegische Schulleben.
Da ich nur ein halbes Jahr in Norwegen bleiben sollte, musste ich mich am Anfang des Dezembers 2015 schon wieder mit meiner Rückreise nach Deutschland konfrontiert sehen. Vorher jedoch wollte ich mir ein Ereignis von Weltrang nicht entgehen lassen: Das Friedensnobelpreiskonzert 2015 mit zahlreichen nationalen und internationalen Künstlern wie A-Ha, Kygo, Jason Derulo und den Gewinnern des diesjährigen Friedensnobelpreises. Ein tolles, stimmungsvolles Konzert, welches einen ereignisreichen und unvergesslichen Austausch beenden sollte.
Als ich am 18. Dezember dann den Boden des Düsseldorfer Flughafens betrat, tat ich dies nicht mehr nur als Deutscher. Ich tat es auch als Norweger, Europäer und jemand, der sich in mehreren Kulturen heimisch fühlt.